Merkwürdig insofern, als es mir völlig unmöglich war, sein Alter zu bestimmen. Anfangs glaubte ich, einem Greis gegenüberzusitzen, doch bald sah ich, dass ich mich getäuscht haben musste, denn mein Mitreisender erschien mir plötzlich sehr jung. Doch auch dieser Eindruck erwies sich bald wieder als Irrtum. Jedenfalls erzählte er mir während der langen Nachtfahrt diese ganze Geschichte. Nachdem er damit zu Ende war, schwiegen wir beide ein Weilchen. Dann fügte der rätselhafte Passagier noch einen Satz hinzu, den ich dem Leser nicht vorenthalten darf. »Ich habe Ihnen das alles erzählt«, sagte er nämlich, »als sei es bereits geschehen. Ich hätte es auch so erzählen können, als geschehe es erst in der Zukunft. Für mich ist das kein so großer Unterschied.« Er muss dann wohl an der nächsten Station ausgestiegen sein, denn ich bemerkte nach einer Weile, dass ich allein im Abteil war.
(...) im Grunde schreibe ich überhaupt nicht für Kinder. Ich meine damit, dass ich während der Arbeit niemals an Kinder denke, mir niemals überlege, wie ich mich etwa ausdrücken muss, damit Kinder mich verstehen, niemals einen Stoff auswähle oder verwerfe, weil er für Kinder geeignet oder nicht geeignet ist. Bestenfalls könnte ich noch sagen: Ich schreibe die Bücher, die ich als Kind gerne selbst gelesen hätte. Diese Formulierung hört sich hübsch an, aber sie trifft nicht ganz die Wahrheit, denn ich schreibe auch nicht aus einer Erinnerung oder Rückbesinnung an meine eigene Jugend. Das Kind, das ich einmal war, lebt noch heute in mir, es gibt keinen Abgrund des Erwachsenwerdens, der mich von ihm trennt, im Grunde fühle ich mich als der Gleiche, der ich damals war. An dieser Stelle sehe ich vor meinem inneren Auge so manchen Psychologen bedenklich die Stirn runzeln und murmeln: Er ist eben nie wirklich erwachsen geworden. Das gilt ja heutzutage als schwerwiegender Fehler. Nun, sei's drum, ich gebe es zu, ich bin wohl tatsächlich nie so richtig erwachsen geworden. Ich habe mich mein Leben lang dagegen gewehrt, das zu werden, was man heutzutage einen richtigen Erwachsenen nennt, nämlich jenes Krüppelwesen, das in einer entzauberten, banalen, aufgeklärten Welt sogenannter Tatsachen existiert. Und ich berufe mich dabei auf das Wort eines großen französischen Dichters: Wenn wir ganz und gar aufgehört haben, Kinder zu sein, dann sind wir schon tot. Ich glaube, dass in jedem Menschen, der noch nicht ganz banal, noch nicht ganz unschöpferisch geworden ist, dieses Kind lebt. Ich glaube, dass die großen Philosophen und Denker nichts anderes getan haben, als sich die uralten Kinderfragen neu zu stellen: Woher komme ich? Warum bin ich auf der Welt? Wohin gehe ich? Was ist der Sinn des Lebens? Ich glaube, dass die Werke der großen Dichter, Künstler und Musiker dem Spiel des ewigen und göttlichen Kindes in ihnen entstammen; dieses Kind, das ganz unabhängig vom äußeren Alter in uns lebt, ob wir neun Jahre alt sind oder neunzig; dieses Kind, das nie die Fähigkeit verliert zu staunen, zu fragen, sich zu begeistern; dieses Kind in uns, das so verletzlich und ausgeliefert ist, das leidet und nach Trost verlangt und hofft; dieses Kind in uns, das bis zu unserem letzten Lebenstag unsere Zukunft bedeutet.
Wenn es mir erlaubt ist, so möchte ich dem Wort Goethes vom Ewig-Weiblichen in aller gebotenen Bescheidenheit das Ewig-Kindliche beigesellen, ohne das der Mensch aufhört, Mensch zu sein. Für dieses Kind in mir und in uns allen erzähle ich meine Geschichten, denn wofür sonst lohnte es sich überhaupt, etwas zu tun? Es sind also durchaus keine pädagogischen oder didaktischen Absichten, die mich bei meiner Arbeit leiten.
(...) Die wahre, eigentliche Triebfeder, die mich beim Schreiben bewegt, ist die Lust am freien und absichtslosen Spiel der Phantasie. Für mich ist die Arbeit an einem Buch immer von neuem eine Reise, deren Ziel ich nicht kenne, ein Abenteuer, das mich vor Schwierigkeiten stellt, die ich vorher nicht kannte, durch das Erlebnisse, Gedanken, Einfälle, in mir hervorgerufen werden, von denen ich nichts wusste - ein Abenteuer, an dessen Ende ich selber ein anderer geworden bin als der, der ich zu Anfang war. Ein solches Spiel kann man nur absichtslos treiben, denn wer vorher schon wissen oder planen will, wohin ein solches Abenteuer einen führt, der verhindert damit schon, dass es dazu kommt.
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Post auch veröffentlicht auf Die Welten meiner und unserer inneren Kinder