J. Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst. Hamburg 2005
(wissenschaftsbezogen, dennoch verständlich und anschaulich geschrieben, praxisorientiert. – Echt empfehlenswert)
Asterix und Obelix in der Hirnrinde
Bei der Ausführung einer Aktion geht das Gehirn ähnlich vor wie Asterix und Obelix: Den Plan haben die Handlungsneurone, die intelligenten Asterix-Nervenzellen der prämotorischen Hirnrinde. Die konkrete Ausführung erfolgt durch die Bewegungsneurone, die Obelix-Nervenzellen der benachbarten motorischen Hirnrinde, die den Muskeln den Marschbefehl geben. Untersuchungen zum Ablauf von Handlungen zeigen, dass die Handlungsneurone ihre bioelektrischen Signale abfeuern, bevor die Bewegungsneurone in Aktion treten. Der Zeitunterschied zwischen dem Plan von Asterix und der von Obelix ausgeführten Aktion beträgt zwischen 100 und 200 Millisekunden, also ein bis zwei Zehntel einer Sekunde.
Allerdings: Nicht jede Idee, die Asterix in den Sinn kam, ließ er von Obelix auch in die Tat umsetzen. So verhält es sich auch bei den Handlungsneuronen. Zwar können Bewegungsneurone, wenn sie von den handlungssteuernden Nervenzellen keine Anweisungen erhalten, allein niemals zielgerichtete Handlungen ausführen. Andererseits aber kommt es nicht jedes Mal, wenn Handlungsneurone aktiv werden, unbedingt auch zu einer tatsächlichen Aktion der Bewegungsneurone. Es kann auch bei der bloßen Vorstellung oder beim Nachdenken über eine Handlung bleiben. Was Handlungsneurone kodieren, kann also ein Handlungsgedanke bleiben. Ebenso allerdings gilt: Handlungsvorstellungen, über die häufig nachgedacht wurde, haben eine bessere Chance, realisiert zu werden, als solche, die vorher nicht einmal als Idee vorhanden waren. Was sich auch experimentell beweisen lässt. Was dies für die Frage des freien Willens bedeutet, wird zu erörtern sein [...]
Giacomo Rizzolatti, Chef des Physiologischen Instituts der Universität Parma [...] und seine Mitarbeiter untersuchen seit langem, wie das Gehirn die Planung und Ausführung zielgerichteter Handlungen steuert. Kein Wunder also, dass die intelligenten Handlungsneurone vom Typ Asterix seit etwa zwanzig Jahren sein Forschungsthema sind. Er begann in den achtziger Jahren mit seinen Untersuchungen bei Affen.
[...] Rizzolatti hatte bei diesem Tier also ein Handlungsneuron identifiziert, das den Plan für die Aktion »Greifen nach einer Nuss, die auf einer Fläche liegt« kodiert. Jedes Mal, wenn der Affe diese Handlung ausführte, begann die Aktion mit einem bioelektrischen Signal dieser Nervenzelle. Aber damit nicht genug. Denn nun beobachteten die Forscher etwas Erstaunliches: dass diese Zelle auch dann feuerte, wenn der Affe beobachtete, wie jemand anders nach der Nuss auf dem Tablett griff. Man braucht einen Moment, um zu begreifen, was das bedeutete. Es war eine neurobiologische Sensation.
Die Sensation war, dass es so etwas wie eine neurobiologische Resonanz gibt: Die Beobachtung einer durch einen anderen vollzogenen Handlung aktivierte im Beobachter, in diesem Fall dem Affen, ein eigenes neurobiologisches Programm, und zwar genau das Programm, das die beobachtete Handlung bei ihm selbst zur Ausführung bringen könnte. Nervenzellen, die im eigenen Körper ein bestimmtes Programm realisieren können, die aber auch dann aktiv werden, wenn man beobachtet oder auf andere Weise miterlebt, wie ein anderes Individuum dieses Programm in die Tat umsetzt, werden als Spiegelneurone bezeichnet.
Spiegelneurone lassen sich aber nicht nur dadurch zur Resonanz aktivieren, dass bei einem anderen eine Handlung beobachtet wird. Geräusche, die typisch für eine bestimmte Handlung sind, haben den gleichen Effekt: Wird das Erdnuss-Experiment mit dem Affen so aufgebaut, dass die Nüsse in einem Papier enthalten sind, das beim Öffnen auf typische Weise raschelt, reicht dieses Geräusch aus, um die entsprechenden handlungssteuernden Spiegelneurone des Affen zu aktivieren. Beim Menschen genügt es zu hören, wie von einer Handlung gesprochen wird, um die Spiegelneurone in Resonanz treten zu lassen. [...]
Bei anderen wahrgenommene Handlungen rufen unweigerlich die Spiegelneurone des Beobachters auf den Plan. Sie aktivieren in seinem Gehirn ein eigenes motorisches Schema, und zwar genau dasselbe, welches zuständig wäre, wenn er die beobachtete Handlung selbst ausgeführt hätte. Der Vorgang der Spiegelung passiert simultan, unwillkürlich und ohne jedes Nachdenken. Von der wahrgenommenen Handlung wird eine interne neuronale Kopie hergestellt, so, als vollzöge der Beobachter die Handlung selbst. Ob er sie wirklich vollzieht, bleibt ihm freigestellt. Wogegen er sich aber gar nicht wehren kann, ist, dass seine in Resonanz versetzten Spiegelneurone das in ihnen gespeicherte Handlungsprogramm in seine innere Vorstellung heben. Was er beobachtet, wird auf der eigenen neurobiologischen Tastatur in Echtzeit nachgespielt. Eine Beobachtung löst also in einem Menschen eine Art innere Simulation aus. [...] Es ist ähnlich wie im Flugsimulator: Alles ist wie beim Fliegen, sogar das Schwindelgefühl beim Sturzflug stellt sich ein, nur, man fliegt eben nicht wirklich.
[...] Ebenso wie der im Flugsimulator sitzende »Beobachter« macht auch der ganz normale Beobachter, der die Handlung eines anderen Menschen miterlebt, folgende Erfahrung: Indem er das, was er beobachtet, unbewusst als inneres Simulationsprogramm erlebt, versteht er, und zwar spontan und ohne nachzudenken, was der andere tut. Weil dieses Verstehen die Innenperspektive des Handelnden mit einschließt, beinhaltet es eine ganz andere Dimension als das, was eine intellektuelle oder mathematische Analyse des beobachteten Handlungsablaufs leisten könnte. Was die Spiegelnervenzellen im Beobachter ablaufen lassen, ist das Spiegelbild dessen, was der andere tut. Natürlich beschränkt sich die Wahrnehmung eines anderen Menschen nicht allein auf innere Simulation, aber sie bezieht diesen wichtigen Aspekt mit ein.
[...] Spiegelphänomene machen Situationen - ob im Guten oder im Schlechten - vorhersehbar. Sie erzeugen ein Gefühl, dass wir Intuition nennen und das uns ahnen lässt, was kommen könnte. Was die Intuition ahnt, ist nicht dem Zufall überlassen. Sie ist sozusagen eine Art abgemilderter Form der impliziten Gewissheit, eine Art Ahnung oder siebter Sinn. [...]
Spiegelneurone machen also, indem sie in Resonanz treten und mitschwingen, beobachtete Handlungen für unser eigenes Erleben nicht nur spontan verständlich. Spiegelneurone können beobachtete Teile einer Szene zu einer wahrscheinlich zu erwartenden Gesamtsequenz ergänzen. S.31Die Programme, die Handlungsneurone gespeichert haben, sind nicht frei erfunden, sondern typische Sequenzen, die auf der Gesamtheit aller bisher vom jeweiligen Individuum gemachten Erfahrungen basieren. Da die allermeisten dieser Sequenzen der Erfahrung aller Mitglieder einer sozialen Gemeinschaft entsprechen, bilden die Handlungsneurone einen gemeinsamen intersubjektiven Handlungs- und Bedeutungsraum [...]
Intuitive Ahnungen können in einem Menschen entstehen, auch ohne das Bewusstsein zu erreichen. Man hat zum Beispiel nur ein ungutes Gefühl, weiß aber nicht, warum. Dies liegt unter anderem daran, dass es subliminale, also nicht bewusst registrierte Wahrnehmungen sein können, die in uns Spiegelneurone aktivieren. Die Fähigkeit, ein Gefühl dafür zu entwickeln, was andere tun, ist bei Menschen allerdings unterschiedlich ausgeprägt.
[...] Wahrnehmungen von Szenen können über das neurobiologische Spiegelsystem zur Aktivierung von Programmen führen die für das Gehirn zwar zunächst wie eine passende Fortsetzung des beobachteten Geschehens aussehen, sich dann aber als Irrtum erweisen. [...]
Untersuchungen zeigen, dass Angst, Anspannung und Stress die Signalrate der Spiegelneurone massiv reduzieren. Sobald Druck und Angst erzeugt werden, klinkt sich alles, was vom System der Spiegelneurone abhängt, aus: das Vermögen, sich einzufühlen, andere zu verstehen und Feinheiten wahrzunehmen. Bereits hier sei angemerkt, dass dort, wo Angst und Druck herrschen, eine weitere Fähigkeit abnimmt, die von der Arbeit der Spiegelsysteme lebt: die Fähigkeit zu lernen. Stress und Angst sind daher in allen Bereichen, wo Lernvorgänge eine Rolle spielen, kontraproduktiv. Dies betrifft nicht nur den Arbeitsplatz oder die Schule. Auch in schwierigen zwischenmenschlichen Situationen, in Konflikten und Krisen sind Auswege nur dann zu finden, wenn keine Atmosphäre der Angst herrscht. Nur dann sind die Beteiligten in der Lage, neue Aspekte in ihren Erfahrungshorizont aufzunehmen, also dazuzulernen.
Dass Spiegelneurone bei Angst und Stress in ein Leistungstief fallen, hat allerdings noch eine weitere Folge: Intuition ist in solchen Situationen kein guter Ratgeber. Die Hemmung des Spiegelsystems durch Stress dürfte eine Erklärung dafür sein, dass intuitive Reaktionen bei starker Belastung und Panik ausgesprochen irrational ausfallen und die Lage oft noch schlimmer machen, als sie es ohnehin schon ist. [...]
Nervenzellen für die Vorstellung von Empfindungen feuern nicht nur, wenn wir selbst eine Handlung planen oder ausführen. Sie verhalten sich wie Spiegelneurone und treten auch dann in Aktion, wenn wir nur beobachten, wie eine andere Person handelt oder auch nur etwas empfindet. Nervenzellen der inferioren parietalen Hirnrinde, die für die Vorstellung von Empfindungen zuständig sind, können uns also auch Auskunft darüber geben, wie sich eine von uns beobachtete Person fühlt. Wachgerufen werden in uns dabei genau jene Nervenzellen für die Vorstellung von Empfindungen, die in Aktion getreten wären, wenn wir uns selbst in der Situation befunden hätten, in der wir die Situation beobachteten.
Die Spiegelaktivität von Nervenzellen für die Vorstellung von Empfindungen erzeugt im Beobachter ein intuitives, unmittelbares Verstehen der Empfindungen der wahrgenommenen Person. Hinzu kommt eine Analogie zum Spiegelverhalten der Handlungsneurone, die auch dann, wenn lediglich ein Teil einer Handlungssequenz wahrgenommen werden kann, eine Vorstellung vom gesamten Ablauf einer Handlungssequenz produzieren. Solche Vorhersagen sind auch für die Entwicklung von Gefühlen möglich. Bereits ein kurzer Eindruck von einer Person kann ausreichen, um eine intuitive Ahnung zu erzeugen, wie die körperlichen Empfindungen der beobachteten Person im kurzfristigen weiteren Verlauf aussehen werden. Personen, die wir in unserer Umgebung erleben, erzeugen in uns also nicht nur intuitive Vorstellungen über ihre Handlungsabsichten, sondern setzen in uns, den Beobachtern, immer auch ein Programm in Gang, das die Frage prüft: »Wie würde sich das jetzt und im weiteren Geschehen anfühlen?« Dies geschieht automatisch, es ist ein implizit ablaufender, präreflexiver Vorgang, der keiner willentlichen Anstrengung und keines bewussten Nachdenkens bedarf. Das Ergebnis ist eine intuitive Wahrnehmung, wie sich ein von uns beobachteter Mensch aller Wahrscheinlichkeit nach gerade fühlt.
(»Theory of Mind«)
Da es gar nicht so wenige Menschen gibt, die in dieser Hinsicht ein ernstes Problem haben [...](siehe Kapitel 3 und 9), beschäftigen sich Neurobiologen, Psychotherapeuten und Mediziner schon seit längerem mit der Frage, woher das Vermögen, eine »Theory of Mind« zu entwickeln, eigentlich kommt. Mit der Entdeckung der Spiegelneurone sind wir bei der Antwort auf diese Frage angekommen. Das System der Spiegelneurone stellt uns die neurobiologische Basis für das gegenseitige emotionale Verstehen zur Verfügung. Wenn wir die Gefühle eines anderen Menschen miterleben, werden in uns selbst Nervenzellnetze in Resonanz versetzt, also zum Schwingen gebracht, welche die Gefühle des anderen in unserem eigenen seelischen Erleben auftauchen lassen. Die Fähigkeit, Mitgefühl und Empathie zu empfinden, beruht darauf, dass unsere eigenen neuronalen Systeme - in den verschiedenen Emotionszentren des Gehirns - spontan und unwillkürlich in uns jene Gefühle rekonstruieren, die wir bei einem Mitmenschen wahrnehmen. Aus neurobiologischer Sicht besteht aller Grund zu der Annahme, dass kein Apparat und keine biochemische Methode den emotionalen Zustand eines anderen Menschen jemals so erfassen und beeinflussen kann, wie es durch den Menschen selbst möglich ist.
Spiegelzellen zu haben, die tatsächlich spiegeln, gehört zu den wichtigsten Utensilien im Gepäck für die Reise durch das Leben. Ohne Spiegelneurone kein Kontakt, keine Spontaneität und kein emotionales Verstehen. Die genetische Grundausstattung stellt dem Säugling ein Startset von Spiegelneuronen zur Verfügung, die ihm die Fähigkeit verleihen, bereits wenige Tage nach der Geburt mit seinen wichtigsten Bezugspersonen erste Spiegelungsaktionen vorzunehmen. Es ist jedoch von entscheidender Bedeutung, ob ihm die Chance gegeben wird, solche Aktionen zu realisieren, denn eine Grundregel unseres Gehirns lautet: »Use it or lose it.« Nervenzellsysteme, die nicht benutzt werden, gehen verloren. Spiegelaktionen entwickeln sich nicht von allein, sie brauchen immer einen Partner.
Dass wir mit einer angeborenen, genetisch angelegten Grundausstattung von Spiegelnervenzellen ins Lebens starten, zeigt sich an einem Phänomen, das ohne sie nicht möglich wäre: Bei richtig gewähltem Abstand beginnen Säuglinge wenige Stunden bis Tage nach der Geburt, bestimmte Gesichtsausdrücke, die sie sehen, spontan zu imitieren. Öffnet das ihnen entgegenblickende Gesicht den Mund, tun sie dasselbe. Auf ein Gesicht mit gespitztem Mund reagiert das Neugeborene, indem es selbst die Lippen kräuselt, und es streckt seine Zunge heraus, wenn man ihm dies vormacht. Mit seiner erstaunlichen Fähigkeit zur Imitation hat der Säugling bereits von den ersten Lebenstagen an die Möglichkeit, sich auf ein wechselseitiges Spiel einzulassen, welches dazu führt, dass sich erste zwischenmenschliche Bindungen entwickeln können. Die neurobiologisch angelegte Bereitschaft zu spontanen Imitationsakten ist das Grundgerüst, um das herum sich die Beziehung zwischen Säugling und Bezugsperson entwickelt. Zwischen dem Neugeborenen und der Hauptbezugsperson beginnt nun etwas, dessen Zauber nur noch mit der Situation von Frischverliebten zu vergleichen ist. Und tatsächlich passiert aus neurobiologischer Sicht in beiden Fällen etwas sehr Ähnliches: ein wechselseitiges Aufnehmen und spiegelndes Zurückgeben von Signalen, ein Abtasten und Erfühlen dessen, was den anderen gerade, im wahrsten Sinne des Wortes, bewegt, begleitet vom Versuch, selbst Signale auszusenden und zu schauen, inwieweit sie vom Gegenüber zurückgespiegelt, das heißt erwidert werden. Dieses Spiel steht nicht nur am Anfang einer Liebesbeziehung, es bildet, in weniger intensiver Form, den Startpunkt jeder zwischenmenschlichen Beziehung.
1 Dazu durchgeführte Untersuchungen stammen von einer Arbeitsgruppe um den Amerikaner Andrew Meltzoff sowie von dem deutschen Forscherpaar Hanus und Mechthild Papousek.
2 Da die Mutter manchmal selbst nicht zur Verfügung stehen kann und stattdessen der Vater oder andere die Hauptrolle bei der Versorgung spielen, verwende ich hier den Begriff »Hauptbezugsperson«. Ihre optimale »Besetzung« ist zweifellos die Mutter.
Damit das ganze wunderbare Spiegelspiel überhaupt beginnen kann, benötigt der Säugling Bezugspersonen, allerdings nicht irgendein Gegenüber, nicht irgendeine Trainingswand, sondern echte »Mitspieler«, die selbst spiegeln können. [...]Die meisten Kinder haben geeignete Mitspieler: Bezugspersonen mit einer normal entwickelten Fähigkeit, mit Liebe, Sensibilität und Wärme auf den Säugling einzugehen Die besten Mitspieler sind die Eltern [...], da sie auf Grund des Geburtserlebnisses von Natur aus mit einer Substanz gedopt sind, die ihre Bindungsfähigkeit erhöht: Oxytocin. Wo Eltern nicht zur Verfügung stehen, können liebevolle Bezugspersonen guten Ersatz bieten. Allerdings müssen sie eine längere Zeit bzw. dauerhaft zur Verfügung stehen, damit sich zwischen ihnen und dem Kind eine Bindung aufbauen kann.
Die genetische Grundausstattung ist alles andere als eine Garantie dafür, dass die biologischen Systeme des Menschen später tatsächlich so funktionieren, wie dies im Prinzip möglich ist. Die angeborenen Spiegelsysteme des Säuglings können sich nur dann entfalten und weiterentwickeln, wenn es zu einem geeigneten und für ihn passenden Beziehungsangebot kommt. Zu den beliebten Irrtümern unserer Zeit gehört die verbreitete Meinung, der wesentliche Schlüssel zum Gelingen unserer Entwicklung sei ausschließlich in den Genen zu suchen. Tatsächlich haben Beziehungserfahrungen und Lebensstile, die immer auch mit einer Aktivierung bestimmter neurobiologischer Systeme einhergehen, einen gewaltigen Einfluss sowohl auf die Regulation der Genaktivität als auch auf Mikrostrukturen unseres Gehirns. Nirgendwo zeigt sich so deutlich wie bei den Spiegelsystemen, welche Bedeutung zwischenmenschliche Beziehungen für die Biologie unseres Körpers haben.
S.62 entstehende Gefühl der Bindung fuhren auch zu einem Ausstoß körpereigener Opioide. Dies erklärt nicht nur, warum zwischenmenschliche Zuwendung - wie sich auch in Studien zeigte - Schmerzen erträglicher macht, sondern auch, warum wir neurobiologisch auf Bindung geeicht sind.4
Frühe Spiegelungen führen also nicht nur zu seelischem, sondern auch zu körperlichem Glück. Umgekehrt ruft eine absichtlich verweigerte Spiegelung massive Unlustreaktionen hervor. Dies macht ein Experiment deutlich, das in der Fachliteratur als »still face procedure« bezeichnet wird. Die Bezugsperson bringt ihr Gesicht in den richtigen Abstand zum Gesicht des Kindes. Wenn der Erwachsene nun, entgegen seiner eigenen emotionalen Intuition, seine Miene absichtlich völlig regungslos beibehält, dann wendet sich das Kind impulsiv ab. Wird die Prozedur mehrere Male wiederholt, hat dies einen emotionalen Rückzug zur Folge: Die Bereitschaft des Säuglings nimmt ab, nach weiteren Möglichkeiten für mimischen Signalaustausch zu suchen.
Aus Beobachtungen dieser Art darf und muss die Schlussfolgerung gezogen werden, dass Versuche, Neugeborene bzw. Kleinkinder emotionslos, nach rein »rationalen« oder »vernünftigen« Kriterien zu versorgen, verheerende Folgen haben. Sie ruinieren die Fähigkeit des Kindes, mit anderen Menschen in emotionalen Kontakt zu kommen und sich mit ihnen intuitiv verbunden zu fühlen. Das frühe Spiel mit spiegelnden Imitationen schafft die Grundlage dessen, was Daniel Goleman als emotionale Intelligenz beschrieben hat.
Obwohl sich das Neugeborene in den ersten Wochen noch nicht als eigene Person erlebt, erzeugt der frühe spiegelnde Austausch von Zeichen in ihm ein erstes intuitives Grundgefühl sozialer Verbundenheit. [...] Da es zu diesem Zeitpunkt zwischen sich und anderen noch nicht unterscheiden kann, haben Säuglingsforscher diesen frühen kommunikativen Austausch als »intersubjectivity without subjects« bezeichnet, das heißt als zwischenmenschliches Beziehungsgeschehen, ohne dass - in Bezug auf das Kind - bereits von einem handelnden Subjekt gesprochen werden könnte. Ungeachtet dessen entwickelt sich das Grundgefühl, in einer intuitiven Verbindung mit anderen gleichartigen Wesen zu stehen, mit ihnen in einer gemeinsamen emotionalen Welt zu leben. Dieses durch wechselseitige Spiegelungsvorgänge entstehende Gefühl, von Vittorio Gallese als »S-Identity« (für: soziale Identität) bezeichnet, entspricht einem menschlichen Urbedürfnis: Säuglingsforscher fanden heraus, dass Kleinkinder bereits mit zwei Monaten aktiv um eine gefühlsmäßige Abstimmung bzw. Übereinstimmung mit der Mutter bemüht sind. Wie aus trickreichen Experimenten hervorgeht, entwickelt das Kind im dritten Lebensmonat ein Gefühl dafür, dass es mit eigenen Lebensäußerungen bei seinen Bezugspersonen Verhaltensänderungen auslösen kann. Um diesen Zeitpunkt herum beginnt der Säugling auch, seine eigene Aufmerksamkeit nach der Blickrichtung und damit nach der Aufmerksamkeit der Erwachsenen aus zurichten. Dieses erste Zeichen einer »joint attention«, eines spiegelnden Einschwingens auf ein gemeinsames Aufmerksamkeits-ziel, ist ein weiteres Beispiel dafür, wie sehr das Kleinkind darauf ausgerichtet ist, sich mit seinen Bezugspersonen intuitiv abzustimmen. Erste Ansätze von emotionaler Intelligenz werden jetzt erkennbar.
Mit etwa sechs Monaten beginnen Kleinkinder den Ablauf und das Ziel von Bewegungssequenzen zu speichern. Dies zeigt sich zum Beispiel daran, dass das Kind in diesem Alter erstmals das Erscheinen eines Balls, der hinter die eine Seite einer Sichtblende gerollt wurde, an der anderen Seite erwartet. Dies ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass es einige Zeit später auch Handlungssequenzen einschließlich ihres Endzustands speichern kann. Um den neunten Monat herum ist das Kind fähig, Objekte oder Bezugspersonen in dem Wissen zu repräsentieren, dass sie auch dann weiter existieren, wenn sie nicht zu sehen sind. [...]. Diese so genannte Objektkonstanz zeigt sich nicht nur in der Beziehung des Kindes zur Bezugsperson, sondern auch daran, dass es dazu übergeht, zum Beispiel einen Ball, der in ein Tuch gewickelt wurde, wieder auszupacken, weil es - anders als zuvor -jetzt weiß, dass der Ball, obwohl nicht sichtbar, weiterhin vorhanden ist. Auf diesem bedeutsamen Entwicklungsschritt, nämlich eine innere Vorstellung vom Fortbestehen nicht sichtbarer Objekte zu haben, baut die Fähigkeit auf, auch Vorstellungen von nicht sichtbaren Abschnitten einer Handlungssequenz zu entwickeln. Mit etwa zwölf bis vierzehn Monaten ist das Kind in der Lage, die Ziele und Absichten von Handlungen, die es beobachtet, vorauszusehen und insoweit zu verstehen. Schrittweise erweitern sich damit auch die Möglichkeiten des Spiegelsystems.
Das Kind entwirft sein Bild der Welt als eine Ansammlung von Handlungsmöglichkeiten. Interaktionen, Handeln und Fühlen sind jedoch nicht nur der Stoff, aus dem die äußere Welt konstruiert wird, sondern auch die Basis für Vorstellungen vom eigenen Selbst. Die Erkenntnis, dass es eine Unterscheidung zwischen Selbst und anderen gibt, bildet sich zwischen dem zwölften und achtzehnten Lebensmonat. Um diese Zeit herum kommt zum bereits vorhandenen intuitiven Gefühl der sozialen Identität (»S-Identity«: Ich gehöre zur Welt der anderen) nun die Wahrnehmung einer eigenen Identität als Individuum hinzu (»I-Identity«: Ich bin anders als die anderen).
Nicht nur, um ein Bild der Welt zu entwerfen, sondern auch, um sich selbst zu definieren, muss sich das kindliche Gehirn also auf abgespeicherte Programme beziehen können, die erlebte Aktions- und Interaktionssequenzen beschreiben.
[...] Zu erlebtem Handeln und Fühlen kommt es jedoch nicht von allein. Wie schon beim frühen Austausch von spiegelnden Imitationen kurz nach der Geburt ist das Kind auch später darauf angewiesen, feste Bezugspersonen zu haben, mit denen es konsistente Beziehungserfahrungen machen kann. Allerdings kommt zum wechselseitigen Kontakt jetzt, kurz vor Beendigung des zweiten Lebensjahres, noch etwas Weiteres hinzu. Das Kind braucht nun zusätzlich ein Übungsfeld, in dem es Handeln und Fühlen in unterschiedlichen Rollen, also aus verschiedenen Perspektiven, erproben kann. Dieses Übungsfeld für die spätere reale Welt ist das kindliche Spiel. Seine überragende Bedeutung ergibt sich daraus, dass das Kind hier, und nur hier, eine nahezu unendliche Anzahl von Handlungs- und Interaktionssequenzen kennen lernen und trainieren kann.
[...] Die Fähigkeit zu spielen ist an neurobiologische Voraussetzungen gebunden: Im Alter von etwa achtzehn Monaten ist das Kind so weit, dass es Handlungen gezielt beobachten und durch bewusste, selbst gesteuerte Imitation einüben kann. Die Spiegelsysteme sind entwickelt und stehen bereit, um sich von Modellen alles abzuschauen. Doch dies allein reicht nicht aus. Das Kleinkind kann sich die Welt des Spiels nicht selbst erschließen. Es muss zunächst eine gewisse Zeit lang von Bezugspersonen in sie eingeführt werden. Bezugspersonen, die das Kind zum Spielen anleiten, sind aus neurobiologischer Sicht durch nichts zu ersetzen, weil die Spiegelsysteme - wie Versuche zeigen - Handlungssequenzen nur dann einspiegeln können, wenn sie von lebenden Vorbildern, von biologischen Akteuren kommen. Kleinkinder brauchen also präsente, lebendige Betreuer. Menschen oder Figuren, die nur auf dem Bildschirm zu sehen sind, haben den schweren und entscheidenden Nachteil, dass sie mit dem Kind keine individuellen Interaktionen gestalten können. Nur wenn Betreuer persönlich anwesend sind, individuell auf die Aktionen des Kindes reagieren und das Spielen immer wieder in Gang bringen, können Kleinkinder, nachdem sie ein entsprechendes Alter erreicht haben, zeitweise dazu übergehen, das Spiel selbst zu organisieren.
Sicherheit durch Orientierung und das Erkennen bedeutungsvoller Zeichen
Die Beobachtung und Imitation des Umgangs anderer Menschen miteinander und mit den Gegenständen der Welt führen zum Aufbau neuer Verknüpfungen zwischen Nervenzellen. Die mit eineinhalb Jahren beginnende Imitationsphase führt, wenn sie durch ein ausreichendes Spielangebot unterstützt wird, zum Ausbau jenes Systems von Spiegelneuronen, das später das volle Spektrum intuitiven Verstehens und Handelns ermöglicht.
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